Mayflower

 

Hugenotten, Teil 16, Puritaner in Amerika

Grosse Teile dieses Artikel sind dem Nebelspalter entnommen, Markus Somm, 24. November 2022 um 12:00

 

Von 1670 bis 1720 überquerten etwa 4.800 Glaubensflüchtlinge den Atlantik und erreichten die Städte Boston, New Rochelle, New York und Charleston an der Ostküste der englischen Kolonie Amerikas.

 

Jedes Jahr am vierten Donnerstag im November zelebriert man in den USA Thanksgiving. Der Brauch geht auf die Pilgerväter zurück, strenge Calvinisten, die Neuengland kolonisiert haben. Die Pilgerväter verfassten ihre Kirche demokratisch. Das prägte die Amerikanische Revolution. Das Vorbild kam aus der Schweiz. Man könnte fast sagen: Ohne Schweiz kein Amerika.

Die Mayflower

Am 21. November 1620 erreichte ein Schiff den weitgehend unbekannten Kontinent Amerika, das Schiff hiess Mayfl ower. Niemand wusste, dass es, benannt nach einer Blume, in die Geschichte eingehen würde. An Bord befanden sich 101 Puritaner, Glaubensflüchtlinge aus Europa, humorlose, aber optimistische, vor allem tiefgläubige Protestanten, die mit der Church of England nichts zu tun haben wollten – und deshalb in England verfolgt worden waren. Man nannte sie auch «Separatisten». Als sie endlich, nach zwei Monaten auf unruhiger See, Land betraten, fielen sie auf ihre Knie und beteten. Gott hatte ihnen ein neues Land zugewiesen, glaubten sie, ein «neues Jerusalem» sollten sie hier aufbauen, besser und frömmer als was sie in Europa, dem sündigen Kontinent hinter sich gelassen hatten – wo es sogar noch römische Katholiken gab, Geschöpfe des Antichrist schlechthin. Nach einigen Wochen der Erkundung kamen die Puritaner zum Schluss, dass sie an der Küste des heutigen Massachusetts ihre Kolonie begründen wollten, zumal sie hier ein Dorf vorfanden, wo kurz zuvor noch Indianer gelebt hatten. Jetzt stand es leer, weil alle Einwohner an einer Seuche gestorben waren. Ihre Gräber sahen noch frisch aus. Die Puritaner nannten das Dorf nun Plymouth, weil Plymouth in England der Hafen war, von dem aus sie aufgebrochen waren. Bereits war es Dezember – und wer Neuenglands Winter kennt – viel Schnee, sehr, sehr kalt –, kann sich ausmalen, was den Siedlern bevorstand. Wenn man Menschen für ihren Mut bewundern muss, dann diese Puritaner, die alles aufgegeben hatten auf der Suche nach einem gottgefälligeren Leben.

 

Die Fahrt der Mayflower

Das Schiff der Pilgerväter stach am 16. September 1620 von Plymouth, England aus in die See und erreicht am 21. November 1620 Neuengland
.

Ein Siedler, der als Kind in Amerika angekommen war, schrieb später: «Was erblickten sie denn ausser einer abscheulichen und gottverlassenen Wildnis, voll von wilden Tieren und wilden Menschen, deren Zahl sie nicht abschätzen konnten? Wohin sie auch ihre Augen richteten (es sei denn in den Himmel), sie sahen wenig Tröstliches »Jedenfalls pflanzten sie bald eigenen Mais an, nachdem endlich der Frühling gekommen war (er kommt spät in Neuengland). Und als sie im folgenden Herbst ihre erste Ernte einfuhren, feierten sie ein Fest, um Gott zu danken Der erste Winter war brutal . Die Hälfte der Siedler starb, besonders die Frauen. Man kam nur durch, weil Indianer ihnen zeigten, wie man hier Nahrung fand und zubereitete. Die Puritaner lernten den Mais kennen, vielleicht auch den Truthahn, den Turkey. Thanksgiving. Weil sie sich aber bewusst waren, dass sie ihr Überleben nicht allein Gott verdankten,sondern auch 90 Indianer vom Stamm der Pokanokets kamen, womit sie die Siedler in Unterzahl versetzten, denn bis zu diesem Herbst waren nur noch 51 von ihnen übriggeblieben.

Bevor die Siedler die Mayflower verliessen, hatten sie sich eine Art Verfassung gegeben. Noch auf dem Schiff unterzeichneten sie den sogenannten Maxflower Compact, worin sie festhielten, dass sie sich eigene Regeln auferlegen wollten, um sich selber zu regieren. Wenn dabei auch keineswegs explizit von Wahlen oder Demokratie gesprochen wurde, war dennoch klar, dass es darauf hinauslief. Schon die Plymouth Colony kannte Wahlen, wo die Mehrheit entschied. Das ergab sich nicht aus Zufall.

 

 

 

Unterzeichnung des Mayflower Vertrags 1620, Jean Leon Gerome Ferris (1899).

 

 

 

 

Puritaner waren Calvinisten, das heisst, ihre theologischen und kirchlichen Überzeugungen stammten im Wesentlichen aus der Schweiz, genauer: aus Genf und Zürich. Zwar hatte der Deutsche Martin Luther die Reformation seinerzeit, 1517, ausgelöst, doch es waren die Schweizer Reformatoren Huldrych Zwingli in Zürich und vor allen Dingen Jean Calvin in Genf (ursprünglich ein Franzose), die den Protestantismus weltweit verbreiteten. Das begann schon im 16. Jahrhundert. Diese protestantische Version, auch «reformiert» genannt, übte sehr viel mehr Einfluss aus als die lutherische Variante, die kaum über Deutschland hinauskam: Natürlich formte Calvin die Hugenotten, die französischen Protestanten, die schliesslich ihre Heimat verlassen mussten. Von Genf aus gelangte der Calvinismus nach Holland, Schottland, Polen, Ungarn, sowie nach England. In England beeinflussten die Reformierten die Church of England.

Puritaner waren sehr antikatholisch, antipapistisch, es ging ihnen darum, die anglikanische Kirche von den als „katholisch“ wahrgenommenen Elementen zu säubern, also von den „smells and bells“, wie man das bis heute im Anglikanismus bezeichnet: Weihrauch, Glocken, Priester, Messliturgie, Prachtentfaltung. Alles das war den calvinistischen Puritanern zuwider, weshalb sie auch von anglikanischer und katholischer Seite als religiöse Fanatiker kritisiert wurden, als eine Art Bilderstürmer. Sie beriefen sich auf Calvin, Zwingli und Heinrich Bullinger (ebenfalls aus Zürich). Sie wollten weiter gehen, radikaler, noch reiner sein: eben Puritaner. 

Deren schweizerische Prägung drückte sich nicht nur in der Theologie aus, sondern insbesondere in der Kirchenorganisation: Reformierte Kirchen kannten keinen Bischof, sondern organisierten sich demokratisch, (wobei man das Wort nicht zu sehr strapazieren soll). Worauf es vielmehr ankommt: Die Kirchgemeinde regierte sich selbst, ob durch einen Rat der Ältesten (Presbyter) oder eine Art Parlament (Synode, Kongregation). Man ernannte seine Pastoren und Minister selbst, man einigte sich auf das gemeinsame Bekenntnis, man liess sich weder von einem Bischof (noch von einem König) hereinreden. Dass es dazu gekommen war, lag an der Eidgenossenschaft. In Zürich regierte zu jener Zeit kein Fürst, sondern der Stadtrat und die Zünfte. Es wurde gewählt und abgestimmt, Mehrheiten beschlossen, auch wenn lange nicht alle Einwohner teilnehmen durften, waren es doch sehr viel mehr als überall sonst im damaligen Europa. Das bestimmte auch die Reformation an der Limmat, die ab 1519 einsetzte. Als Zwingli den neuen Glauben einführen wollte, wurde abgestimmt. Die Mehrheit der Zürcher Bürger entschied sich für Zwingli. Zürich war faktisch eine Republik, ebenso die alte Eidgenossenschaft, so dass auch die protestantischen Kirchen in Bern, Basel, St. Gallen oder eben Genf nicht hierarchisch oder monarchisch aufgebaut wurden. Es wurde abgestimmt, es wurde gewählt. So gelangte der eidgenössische Geist des anti-monarchischen Widerwillens, das synodale Modell in die reformierte Kirche; er durchdrang den Calvinismus, wo immer er sich ausbreitete, und so landete dieser eidgenössische Geist des demokratischen Widerspruchs am 21. November 1620 auch in Neuengland. Das hatte Folgen, besonders politische: Der britische Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch schreibt: «Das synodale Modell erhielt besondere Relevanz, als die Führer der Amerikanischen Revolution 1776 sich von der eigenen Erfahrung in ihren reformierten Kirchen inspirieren liessen, um neue Formen der politischen Regierung zu schaffen.»

 

Puritanismus in Amerika

Der puritanische Einfluss zeigt sich nicht nur im politischen System in Amerikas, sondern auch im amerikanischen Denken und Fühlen.

Ein doppeltes Erbe hat Amerika gross gemacht. Puritanismus und Aufklärung – die zwei geistigen Strömungen ergeben ein seltsames Paar. In den Vereinigten Staaten sind sie jedoch eine fruchtbare Verbindung eingegangen. Die erste wurde am 11. November 1620 (nach heutigem Kalender der 21. November) mit dem «Mayflower Compact» beurkundet, den die Pilgerväter nach ihrer Landung in Massachusetts unterzeichneten. Die zweite Geburtsurkunde ist die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Das erste Dokument steht für die Prägung durch den Puritanismus, das zweite für den Geist der Aufklärung, aus dem heraus die Verfassung der USA geschrieben wurde. Puritanismus und Aufklärung sind die Wurzeln, aus denen das amerikanische Denken und Fühlen noch heute gespeist wird und zwischen denen das Pendel der amerikanischen Politik hin- und herschwingt.

Wer die religiöse Überzeugung kennt, welche die ersten Siedler mitbrachten und die den ältesten Kern des amerikanischen Wertesystems ausmacht, kann Amerika und Amerikaner besser verstehen. Die Puritaner waren gemäss der calvinistischen Prädestinationslehre einerseits von der Hoffnung beseelt, zu den von Gott Erwählten zu gehören, während sie andererseits in der Ungewissheit lebten, ob dies auch wirklich der Fall sei; denn sie selber konnten gemäss der Lehre nichts zur Erlangung dieses Gnadenstands beitragen. So bildete sich früh die Überzeugung heraus, dass irdischer Erfolg ein göttliches Zeichen für Erwähltheit sei; denn weshalb sollte Gott Erfolg an Menschen verschwenden, die er für die Hölle bestimmt hatte? Durch diese Überzeugung wurde der Puritanismus zum Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft, deren Wettbewerbscharakter nirgendwo so extrem ausgeprägt ist wie in den USA. 

Weitere Artikel zum Thema Hugenotten

Art. 1   Eine revolutionäre Entdeckung      Art. 2    Gegenreformation       Art. 3   Gewogen + für zu leicht befunden       Art. 4  Eine verhängnisvolle Nacht      Art. 5   Der singende Tod     

Art. 6   Wege zur Toleranz     Art. 7   Seelen fischen    Art. 8   Absolutismus      Art. 9  Gewalt übersteigt die Vernunft       Art. 10   Sechs Möglichkeiten     Art 11   Sechs Möglichkeiten     Art. 12  Eingeklemmt      

Art. 13   In der Wüste      Art. 14   Gänsespiel      Art. 15   Wahre Stärke       Art. 17   Böses Erwachen      Art. 18   Guerilliakrieg       Art. 19   Nichts wie weg      Art. 20   Asyl      Art. 21   Gratin cardon genevois  

Art. 22   Ein Sturm kommt auf      Art. 23    Ekstatische Phänomene      Art. 24   Auf den Spuren der Hugenotten

Kommentar verfassen

Ihr Name / Vorname wird nicht veröffentlicht.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
Ich stimme zu, dass meine Angaben bis auf Widerruf gespeichert und verarbeitet werden. Detailierte Infos finden Sie in der Datenschutzerklärung.