Wahre Stärke

 

Story/Reisenotiz

Auf den Spuren der Hugenotten, Teil 15, Grenzerfahrung

 

Eine Jugendfreizeit in Südfrankreich, den Cevennen. Wir waren auf den Spuren der Hugenotten. Um die Strapazen der flüchtenden Hugenotten uns etwas näher bringen, spürbarer zu machen, organisiere ich eine Ganztages-Wanderung mitten "in der Wüste".

 

Der Cirque de Navacelles ist eine große Karformation im Süden von Frankreich, die durch Erosion entstanden ist. Er ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Wasser die Landschaft verändert. Zunächst hat sich der kleine Fluss tief in den Fels eingegraben und ein imposantes Tal geschaffen. Die dabei geschaffene Schleife verließ der Fluss alsbald und schaffte sich einen direkten Durchbruch. 

 

Wir starten als Gruppe auf der Hochebene, am Morgen so gegen halb neun. Es ist noch relativ kühl, und es geht ein leichter, angenehmer Wind. Wir wandern über abgegraste, braune Wiesen und überwinden einige Steinmauern. Bei einem Bauernhof kläfft uns ein Hund an. Ein paar braune Kühe stehen und liegen herum. Fast unwirklich, denn alles ist braun in braun. Es gibt keinen markierten Weg. Wir müssen uns mit einer Wanderkarte und Kompass orientieren. Doch wir kommen erstaunlich gut voran und erreichen gegen elf Uhr den Cirque de Navacelles aus südlicher Richtung. Alles verlief genau nach Plan. Die Teilnehme müssen die Augen schliessen und ich führe die Gruppe in einer Kolonne, Hand in Hand bis ganz nach vorne zum Abrund. Dann dürfen alle die Augen öffnen. Grosses Erstaunen. Der Blick in diese Schlucht ist äusserst eindrücklich, denn sie steht in krassem Kontrast zur flachen, trockenen Hochebene. 

Der Abstieg ins Tal quer über Geröllhalden, dann zur Moulin de Foux und dann zum kleinen Weiler am Talboden. Mittagspause. Manche gönnen sich im Kiosk der Auberge ein Eis. Andere baden in der eiskalten Vis oberhalb des Wasserfalls. 

Wir müssen weiter, denn wir haben uns noch viel vorgenommen. Es geht der Vis entlang, die sich durch das Gestein schlängelt. Es ist unglaublich drückend und heiss. Das hatte ich falsch eingeschätzt. Ich bin davon ausgegangen, dass es hier, wo es doch relativ viele Bäume hat, schön kühl sein müsste. Aber nein, die Hitze staute sich im Canyon. Wir folgen einem Wasserkanal bis weit nach hinten ins Tal. Dann nochmals eine richtige Pause unter grossen Bäumen in der Nähe eines total isolierten alten Gebäudes. Es ist so richtig heiss. Selbst im Schatten brennt die Haut. Das Atmen fällt schwer. Doch die Zeit drängt. Schliesslich müssen wir noch die 300 Meter hoch zur Hochebene überwinden. Dort warten nämlich im kleinen Dorf Saint-Maurice-Navacelles 2 Kleinbusse auf uns. 

Ich orientiere alle Teilnehmer und erzähle von den Strapazen die auf uns warten. Dann kontrollieren wir den Rest des Trinkwassers. Ich weise darauf hin, dass beim Aufstieg diejenigen mit Trinkwasser auf die Schwächeren achten sollen. Der Hang liegt genau im Westen, so dass die Abendsonne mit aller Kraft auf uns nieder brennt. Es gibt kaum Schatten. Die Steine und Felsen sind alle so richtig aufgeheizt von der Sonneneinstrahlung durch den Tag. Es ist eine Geröllhalde, auf der sich ein schmaler Trampelpfad hochschlängelt. Ich bleibe zu hinterst in der Gruppe, bei meinem Freund. Er ist der älteste Teilnehmer und nicht der fitteste. Übergewichtig. Schon seit einiger Zeit keucht er wie wild. Wir müssen anhalten, ausruhen. Dann wieder ein paar Schritte weiter nach oben. Der letzte Rest unseres eigenen Wassers ist getrunken. Aber wo sind die anderen? Die haben uns wohl vergessen und ihr Wasser mitgenommen. Es hat keinerlei Schutz mehr vor der Sonne. Das aufgeheizte Geröll reflektiert die aufgenommene Hitze. Max muss sich hinlegen, den Kopf unter kleinste Büschchen legen, um etwas Schutz vor der Sonne zu finden. Sein Atem will sich nicht beruhigen. Ich dachte wir schaffen es nicht mehr mehr. Wie gut wäre jetzt etwas Wasser zum Abkühlen. Gemeinsam kämpfen wir uns nach oben. Schritt um Schritt. Aber dann, endlich, erreichen wir die Anhöhe. Geschafft!!! Die ganze Gruppe wartet auf uns und die Sonne ist bereits daran, hinter dem Horizont zu verschwinden. 

 

Für mich war das eine Lektion fürs Leben. Es ist leicht, sich als stark aufzuführen. Es ist leicht, schnell vorwärts zu gehen. Schwierig ist es aber, sich selbst zu zügeln und einen Weg mit anderen, Schwächeren zu gehen. Wasser zu tragen, Rücksicht zu nehmen, zu helfen. Wahre Stärke kann warten, kann von sich selber weg sehen, handelt vorausschauend und vermag sich anderen anzunehmen.

  • Rücksicht nehmen 
  • sich selbst zügeln 
  • Verantwortung übernehmen

Unser Trekking-Abenteuer "auf den Spuren der Hugenotten" hat uns näher an die Strapazen der flüchtenden Hugenotten gebracht, als ich das erwartet hatte. Ein einziger Tag, eine Situation und wir kommen an unsere Grenzen. Wie muss das den Hugenotten ergangen sein? Sie waren Wochen lang unterwegs unter Todesgefahr. Sie mussten sich verstecken und sie hatten ihre Kinder mit dabei. Wie muss es Menschen heute, in unserer Zeit ergehen, die ihre Heimat verlassen und ihr Leben riskieren z.B. auf einer Fahrt in einem Gummiboot über das Meer?

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Kommentare

Permalink

Hoi Pietro,
ich bin erstaunt und begeistert über deine Gedanken über und um die Hugenotten. Vielen Dank!
Herzliche Grüsse
Ernst

E-Mail Adresse
e.b.hirschi@bluewin.ch

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