Ich sehe Dich

 

Im Sci-Fi-Blockbuster "Avatar" von James Cameron verwenden die Navi die Grussformel "Ich sehe Dich". Wie wunderbar sinnvoll und bewegend, sich anstelle von „Hallo“, „Guten Tag“, „Servus“ oder „Grüss Gott“ mit Ich sehe dich! zu begrüssen! Aber die Filmemacher von „Avatar“ haben diese Grussformel nicht einfach erfunden. Sie haben sie gefunden. In Südafrika. „Sawubona“ ist eine südafrikanische Begrüssung, die "Ich sehe dich!" bedeutet. Und sie spiegelt die Lebensphilosophie von „Ubuntu“.

Blockbuster "Avatar" von James Cameron, 2009, Neytiri (Zoe Saldana) aus dem Na'vi-Stamm der Omatikaya

 

 

 

Interessanterweise kommt diese Formulierung auch in der Bibel vor und zwar, an einer Stelle, wo man es nicht erwarten würde. Jemand Benachteiligtes, jemand der nicht ins System passt. Eine Frau, einen Sklavin erlebt, dass Gott sie sieht.

 

1. Mose 16,13

Hagar rief: »Ich bin tatsächlich dem begegnet, der mich sieht!« Darum nannte sie den HERRN, der mit ihr gesprochen hatte: »Du bist der Gott, der mich sieht.«

In der Bezeichnung "der mich anschaut" ist die helfende Zuwendung mit eingeschlossen. Es lohnt sich hier ein wenig näher hinzuschauen.

Abraham war einer von Noahs Nachfahren. Er wuchs in der reichen Stadt Ur, in Mesopotamien auf. Später zog sein Vater mit ihm unser Frau nach Haran. Dort lebten Abraham und seine Frau Sara als Nomaden im Wohlstand. Sie hatten zahlreiche Knechte und Mägde und besassen grosse Herden mit Schafen, Ziegen, Kamelen und Eseln. Ihnen ging es richtig gut. Eines Tages, als Abraham schon 75 Jahre alt war, sprach Gott zu ihm 1. Mose 12,1-3). Gott hatte Abraham ein Versprechen gegeben: "Zieh weg aus deinem Land, weg aus deiner Stadt, weg von deinen Verwandten und Freunden! Lass alles zurück! Ich werde ein neues Land zeigen. Dort wirst Du Kinder bekommen und auch die werden wieder Kinder haben." Auf der langen, mühevollen Reise ins Verheissene Land bekommt Abraham erneut Gottes Verheissung: "Schau zum Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!". Die Verheissung wird von Gott nochmals wiederholt, als Abraham hundert Jahre alt war. (1. Mose 17,17) "Abraham lachte und dachte: "Soll Sara mit 90 Jahren ein Kind gebären?". 

Da, mitten drin, zwischen den zwei letzten Verheissungen, da erfahren wir von einem Vorschlag Saras. Abraham soll die ägyptische Magd Hagar zur Nebenfrau nehmen und mit ihr den von Gott verheißenen Erben zu zeugen. Abraham willigt ein. Er ist in dieser Geschichte relativ passiv. Abraham stellt sich nicht dagegen. Ihm ist der Vorschlag Saras wohl gerade recht gewesen. Seine Passivität setzt denn auch ein Eifersuchts­drama in Gang. Hagar wird schwanger und schaut auf ihre kinderlose Herrin herab. Sara ist verletzt, schiebt aber die Schuld Abraham in die Schuhe, obwohl doch sie alles eingefädelt hat. Aus dem Konflikt zwischen Herrin und Magd wird ein Ehekonflikt. Sara ruft Gott als Schiedsrichter an. Doch darauf wartet Abraham nicht. Er schafft klare Verhält­nisse und erlaubt Sara, die Magd zu demütigen. Hagar flieht in die Steppe zwischen dem Süden des West­jordan­landes und Ägypten. Hier greift Gott ein. Ein Engel findet Hagar und schickt sie zu Sara zurück 1.Mose 16). Dort erhält Hagar von Gott eine Verheißung für ihren Sohn Ismael – zu Deutsch „Gott hört“ – soll viele Nachkommen haben, die zu einem großen Volk werden. Die Ismael-Leute werden Beduinen sein und sich in der Steppe mit anderen Stämmen auseinandersetzen müssen. Das Leben in der Wüste wird für sie hart sein. Aber sie werden sich behaupten, auch gegenüber den Nachkommen Isaaks, die im fruchtbaren Land am Jordan leben dürfen.

Die Familientragödie nimmt dramatische Formen an. Zunächst lebt der bereits grosse Ismael mit dem kleinen Isaak in Abrahams Haushalt. Isaak wird abgestillt, und aus diesem Anlass wird ein großes Fest gefeiert. Sara ist aber nicht glücklich. Ihre alte Eifersucht auf Hagar ist immer noch da. Sie kann sich nicht damit abfinden, dass Ismael und ihr Sohn Isaak zusammen aufwachsen. Der Vorschlag Saras, die Magd Hagar mit ihrem Sohn zu vertreiben und ihnen das Erbrecht zu nehmen, missfällt Abraham sehr. Doch Sara setzt sich mit ihrer Eifersucht durch. Abraham bereitet schweren Herzens die Vertreibung Hagars und Is­maels vor und versorgt sie mit Proviant. Da erbarmt sich Gott des Elends der Hagar und ihres Sohnes. Die Beiden irren im Südland in der Steppe umher. Das Wasser ist zu Ende, sie bereiten sich auf den Tod vor. Ismael schreit vor Durst, Hagar weint. Aber Gott hört das Schreien des Jungen. Ein Engel Gottes greift ein (1.Mose 21). Er ermutigt Hagar und wiederholt die Verheissung für Ismael – er wird ein grosses Volk werden. 

In der biblischen Heilsgeschichte verlieren sich die Spuren der Nachkommen Ismaels, den Ismaelitern. Sie werden nicht mehr erwähnt, und auch in der Profangeschichte hören wir nichts mehr von ihnen. Das ist nicht verwunderlich, da Beduinen keine Staatlichkeit und keine Geschichtsschreibung kennen. Vermutlich haben sich die Nachfahren Ismaels mit anderen Völkerschaften vermischt. 

 

 

"Der Engel erscheint zu Hagar und Ismael in der Wüste"; Stift und braune Tinte mit Deckfarben auf Papier; Rembrandt van Rijn

 

Gottes Verhalten lässt in dieser Geschichte aufhorchen. Gott hatte zwar viel Geduld mit Sara und Abraham. Aber, erhörte auch das Flehen Hagars in der Wüste und rettete sie. Auch wir dürfen uns an Gottes Erbarmen klammern. Als Höhepunkt einer Geschichte, die in knappen Worten viel Schmerzhaftes erzählt. Viel Leid, das erduldet und einander angetan wird. Da ist eine Frau, eine Sklavin, Hagar. Sie wird nicht nach ihrer Meinung gefragt. Sie wird von Sara und Abraham auch nie mit Namen genannt, immer nur als „Sklavin“ bezeichnet. Als Leihmutter missbraucht, bald schwanger, wird sie gedemütigt und schlussendlich ausgestossen.

Aber Gott sieht sie. Er hat nicht nur Erbarmen. Er sieht Dich. Er sieht auch diejenigen Menschen, die nicht der allgemeinen Norm entsprechen. Er sieht diejenigen, welche nicht ins System passen. Er sieht die Menschen, über die verfügt wird. Er sieht Schwache, er sieht Flüchtlinge. Er sieht die Sklaven. Er sieht Frauen und Kinder. Er stellt sich zu ihnen und hilft ihnen und stärkt sie. Es ist ein Sehen, das versteht und Mut macht. Im Nachhinein weiss Hagar, dass sie nicht allein war in der so schwierigen Zeit ihres Lebens und dass sie immer gesehen wurde. Hagars Gotteslob in dieser ergreifenden Erzählung in 1. Mose 16 klingt nach, bis heute. Wir haben einen Gott, der uns ansieht. Auch wenn wir seine Wege für uns manchmal nicht verstehen. Auch wenn unsere gut durchdachten Pläne manchmal nicht aufgehen und wir dazu neigen, unsere eigenen Ideen als letzte Möglichkeit zu sehen. Wenn alles aussichtslos erscheint, dann ist er immer noch da und öffnet einen Lebensraum, der in die Weite führt.

 

Nicht nur das. Gott sieht die ganze Menschheit. Er sieht Kriege, die Armut, Hungersnöte, Verletzlichkeit. Er sieht die Schuld, die Versäumnisse, den Tod. Und Gott handelt. Gott selber hat sich auf diese Erde heruntergelassen, in dieses Durcheinander in die Not und das Leid, die Sorge und die Ängste. Gott ist Mensch geworden, wie du und ich. Er hat das getan, um all dem Leid und all der Not in dieser Welt entgegen zu wirken. Seine Liebe lässt hoffen.

 

Vertiefung:

Gesehen werden ist etwas Wichtiges. Schlimm ist, wenn man nicht gesehen wird und noch schlimmer, wenn man keine Beachtung findet. In einer Begegnung seinem Gegenüber zu versichern, ihn oder sie „zu sehen“, wirklich wahrzunehmen, mit dem, was er oder sie mitbringt: Hoffnungen und Ängste, Vertrauen und Sorgen – was könnte dem Frieden im Miteinander mehr dienen? 

Gesehen werden, kann auch eine ganz negative Seite haben. Dies dann, wenn der Blick kontrollierend, und damit einengend ist.

Darauf spielt die Geste, mit zwei V-Zeichenfingern an. Zuerst auf die eigenen Augen gerichtet und dann auf eine andere Person, um "Ich beobachte dich!" zu signalisieren. Die Geste ist Italienisch und kommt vom malocchio, der böse Blick. Der böse Blick ist der, den eine Person dir zuwirft, wenn sie eifersüchtig auf dich oder das ist, was du hast (Besitz, Liebe, Kinder, Position, Aussehen, irgendetwas). Das ist es, was die Leute dazu bringt zu sagen: „Wenn Blicke töten könnten, wäre ich 6 Fuss unter“. Die „Ich beobachte dich“-Geste soll das Gegenüber wissen lassen, dass du sie beobachtest. 

 

 

 

 

Jack Nicholson in der Komödie "Meet the Fockers" (Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich), 2004

 

Wie sehen wir einander an – und was lösen wir damit aus? Die Schwangere sieht auf die Kinderlose herab, die Herrin ist plötzlich „wie Nichts“ in den Augen ihrer Sklavin. Sara ist davon so getroffen, dass sie sich bei Abraham die Erlaubnis holt, mit Hagar zu tun, was „gut in ihren Augen ist“. Gut in Saras Augen ist es, die Sklavin so zu demütigen, dass sie erkennt, wo ihr Platz ist: ganz unten. Die Augen anderer machen mich klein: Diese Erfahrung teilen beide Frauen. Wenn Blicke töten könnten…, sagen wir. Nicht selten erleben wir, wie wahr das Sprichwort ist. Wie schmerzhaft es ist, übersehen zu werden. Wie demütigend es sein kann, wenn meine Schwachstellen ausgeleuchtet werden, mein Versagen, meine wunden Punkte. Kein Wunder, dass die meisten Menschen beides kennen: Den großen Wunsch, gesehen zu werden – und die Angst davor.

 

 

 

 

Ich glaube daran, dass das grösste Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. 

Das grösste Geschenk, das ich geben kann, ist den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren.

Wenn das geschieht, entsteht Kontakt.

von Virginia Satir

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