Hugenotten, Teil 23, Inspirierte Pietisten
Die Ursprünge dieser Phänomene gehen auf die Verfolgung der französischen Hugenotten zurück. Viele protestantische Glaubensflüchtlinge zogen sich nach 1685 in die abgelegenen Regionen der Cevennen zurück. Doch die königlichen Truppen verwüsteten weite Landstriche und zerstörten die dort bestehenden protestantischen Gemeindestrukturen. Da immer mehr Pfarrer verhaftet wurden oder fliehen mussten, entstand eine Bewegung von theologisch nicht ausgebildeten Laienpredigern, die eine ekstatisch-visionäre Religiosität vertraten. Frauen beanspruchten, in Trancezustand unter aussergewöhnlichen körperlichen Erscheinungen, als gottgesandte vom Heiligen Geist inspirierte Werkzeuge zu reden." Die erste inspirierte Prophetin war die etwa 16-jährige Isabeau Vincent, die erstmals im Februar 1688 auftrat.
Dreieinigkeit Gottes, Vater, Sohn und Heiliger Geist; Autor/-in unbekannt
Eberhard Ludwig Huber, angehöriger der Inspirationsbewegung, charakterisierte die Gruppierung im Jahr 1716 folgendermassen: "Die heut zu Tage so genannten Inspirierten sind Leute, welche von einem gewissen Geist getrieben, unter allerhand sonderlichen und manchmal seltsamen Leibes-Bewegungen auf eine sonst ungewöhnliche Weise reden und aussprechen, was und wie ihnen ein solcher Geist einhauchet oder eingiebet. Bei den wahren Inspirierten ist es der gute und göttliche, bei den falschen aber der böse und eigene Geist." Auch Hanspeter Jecker, Dozent an der Bibelschule Bienenberg betonte die Unterscheidung der Geister sei eine grosse Herausforderung gewesen. Der Anblick der ekstatischen Erscheinungen müsse für "Ungewohnte und Uneingeweihte" schrecklich gewesen sein. Huber beschrieb die Phänomene der Inspirierten so: "Die äusseren Bewegungen bestehen insbesondere in einem ungewöhnlichen Schütteln des Kopfs, Schlappern des Mundes, Zucken der Achseln, Schlottern der Knie, Zittern der Beine, Erschütterung und sitzender Aufhüpfung des ganzen Leibes." Jecker schreibt dazu, mache der Inspirierten hätten diesen Erscheinungen wegen wenig Aufhebens gemacht. Im Gegenteil, sie hätten sogar lieber darauf verzichtet. "Da dies aber nicht möglich zu sein schien, haben sie sich damit abgefunden".
Zu den Ursachen der Phänomene schrieb eine theologische Zeitschrift aus dem Jahr 1854: "Die Inspiration kam bei oder nach eifrigem Beten, Singen, Betrachten göttlichen Wortes, geistlicher Unterredung, innerer Sammlung, also bei schon vorhandener religiöser Stimmung und Anregung des Werkzeugs, und zwar nur ausnahmsweise, wenn es einsam für sich war, sonst immer in Gegenwart andere, von denen es Einflüsse empfing oder auf welche es Einfluss ausübte, somit meistens in den Gebetsversammlungen." *2
Der Pietismus
Die Pietisten stellten erstmals das freie Individuum in den Mittelpunkt des Glaubens. Gegen orthodoxe Prinzipienreiterei setzten sie das religiöse Gefühl des Einzelnen. Damit wurden sie zur wichtigsten protestantischen Reformbewegung. Heute ist mit Pietismus in der Regel der klassische Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts gemeint. Dieser plädierte für einen persönlich-individuellen lebendigen Glauben, der sich an der Bibel orientiert und lebensverändernd ist, also der Auswirkungen auf die gelebte Lebenspraxis und den Alltag hat. Es geht dabei nicht primär um äußere Taten und Rituale, es geht um die „innere Verwandlung“ des Menschen, der dann innerlich von Gott so „berührt, ergriffen und erfüllt“ ist, dass es sich nach aussen durch Werke der Liebe zeigt. Große Bedeutung haben im Pietismus auch die interkonfessionelle Gemeinschaft der Christen untereinander sowie das Engagement von Laien.
"Eine grosse Erregung erfasste alle, die versammelt waren, und auch sie priesen Gott. Von Ehrfurcht erfüllt, sagten sie: Unglaubliche Dinge haben wir heute erlebt".
*1 Aus: "Werkzeuge Gottes": Ergriffenheit und Bessenheit und ihre Transformationen im Pietismus, von Lucinda Martin, Universität Erfurt, Gotha Research Centre, Faculty Member; Quelle: https://www.academia.edu/
*2 Aus: Idea Dossier Nr. 1/95 vom 13. April 1995, Seite 3
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