Pietisten von Venny Soldan Brofeldt, 1898

Ekstatische Phänomene

 

Hugenotten, Teil 23, Inspirierte Pietisten

 
Im 18. Jh. ist in Frankreich, Deutschland und der Schweiz die Rede von seltsamen Phänomenen, bezüglich der übernatürlichen Inbesitznahme des menschlichen Körpers. Bei vielen Erweckungsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts ist von solchen Phänomenen die Rede. Von Zinzendorf z.B. weiss man, dass Leute in seinen Versammlungen umgefallen sind. Man hat daraus aber nicht viel Aufhebens gemacht. 
 
 

Die Ursprünge dieser Phänomene gehen auf die Verfolgung der französischen Hugenotten zurück. Viele protestantische Glaubensflüchtlinge zogen sich nach 1685 in die abgelegenen Regionen der Cevennen zurück. Doch die königlichen Truppen verwüsteten weite Landstriche und zerstörten die dort bestehenden protestantischen Gemeindestrukturen. Da immer mehr Pfarrer verhaftet wurden oder fliehen mussten, entstand eine Bewegung von theologisch nicht ausgebildeten Laienpredigern, die eine ekstatisch-visionäre Religiosität vertraten. Frauen beanspruchten, in Trancezustand unter aussergewöhnlichen körperlichen Erscheinungen, als gottgesandte vom Heiligen Geist inspirierte Werkzeuge zu reden." Die erste inspirierte Prophetin war die etwa 16-jährige Isabeau Vincent, die erstmals im Februar 1688 auftrat.

 

Dreieinigkeit Gottes, Vater, Sohn und Heiliger Geist; Autor/-in unbekannt 

 

 
Nach der Niederschlagung des Aufstands der Camisarden im Jahr 1704 wanderten viele Hugenotten aus den Cevennen in protestantische Nachbarländer Frankreichs aus. Sie fanden u. a. Zuflucht in England, wo sie als „French Prophets“ bezeichnet wurden und in London eine eigene Gemeinde gründeten, da die dortige Hugenottengemeinde sie nicht integrieren konnte. Auch die anglikanische Staatskirche lehnte sie ab. Seit 1709 unternahmen die französischen Propheten missionarische Reisen durch den europäischen Kontinent unter apokalyptischem Vorzeichen. 
Auf Deutschland griffen die Ideen der Inspirierten spätestens 1711 über, als die beiden geflohenen Erweckungsprediger Allut und Marion in pietistischen Gemeinden der Wetterau Aufnahme fanden. Dort bildeten sich in den Folgejahren die ersten 10 deutschen Inspirationsgemeinden, von denen aus sich die neue Glaubensrichtung vor allem im Südwesten und Westen Deutschlands verbreitete. Anknüpfen konnten die „französischen Propheten“ an die ekstatischen Erfahrungen unter den "Radikalen" Pietisten, die diese seit den 1690er Jahren machten. Aufsehenerregend waren die äußeren Erscheinungen der Ekstase. Die vom Geist ergriffenen „Werkzeuge“ verfielen zunächst in krampfartige Bewegungen. Dieser Zustand wurde dann meist von einer kataleptischen Starre, in der das sensorische Empfinden ausgeschaltet war, abgelöst. Daraufhin begannen die „inspirierten“ Reden der „Werkzeuge“, in denen entweder Gott selbst als Redender vorgestellt, seine Botschaften in der Dritten Person an die Anwesenden gerichtet oder Gebete an Gott gerichtet wurden. Der Inhalt der Predigten hatte zwei Hauptthemen: Der Ruf zur Buße und die Ankündigung einer baldigen Wende der derzeitigen Verhältnisse in apokalyptischen Weissagungen. Die Aussprachen der „Propheten“ wurden von Schreibern mitgeschrieben und publiziert. Sie wurden zu heiligen Schriften und traten neben die Bibel.
 

Eberhard Ludwig Huber, angehöriger der Inspirationsbewegung, charakterisierte die Gruppierung im Jahr 1716 folgendermassen: "Die heut zu Tage so genannten Inspirierten sind Leute, welche von einem gewissen Geist getrieben, unter allerhand sonderlichen und manchmal seltsamen Leibes-Bewegungen auf eine sonst ungewöhnliche Weise reden und aussprechen, was und wie ihnen ein solcher Geist einhauchet oder eingiebet. Bei den wahren Inspirierten ist es der gute und göttliche, bei den falschen aber der böse und eigene Geist." Auch Hanspeter Jecker, Dozent an der Bibelschule Bienenberg betonte die Unterscheidung der Geister sei eine grosse Herausforderung gewesen. Der Anblick der ekstatischen Erscheinungen müsse für "Ungewohnte und Uneingeweihte" schrecklich gewesen sein. Huber beschrieb die Phänomene der Inspirierten so: "Die äusseren Bewegungen bestehen insbesondere in einem ungewöhnlichen Schütteln des Kopfs, Schlappern des Mundes, Zucken der Achseln, Schlottern der Knie, Zittern der Beine, Erschütterung und sitzender Aufhüpfung des ganzen Leibes." Jecker schreibt dazu, mache der Inspirierten hätten diesen Erscheinungen wegen wenig Aufhebens gemacht. Im Gegenteil, sie hätten sogar lieber darauf verzichtet. "Da dies aber nicht möglich zu sein schien, haben sie sich damit abgefunden".

Zu den Ursachen der Phänomene schrieb eine theologische Zeitschrift aus dem Jahr 1854: "Die Inspiration kam bei oder nach eifrigem Beten, Singen, Betrachten göttlichen Wortes, geistlicher Unterredung, innerer Sammlung, also bei schon vorhandener religiöser Stimmung und Anregung des Werkzeugs, und zwar nur ausnahmsweise, wenn es einsam für sich war, sonst immer in Gegenwart andere, von denen es Einflüsse empfing oder auf welche es Einfluss ausübte, somit meistens in den Gebetsversammlungen."  *2

 

Magisches Weltbild des Mittelalters
 
Der Pietismus entstand in einer Zeit, in welcher die Öffentlichkeit glaubte, dass das Universum nicht nur von Menschen bevölkert sei, sondern auch von geistigen Wesenheiten, sowohl göttlichen als auch dämonischen. Es herrschte zu dieser Zeit noch ein magisches Weltbild vor. Deutschland hatte seit dem Mittelalter eine lange und ungebrochene Geschichte von göttlicher Ergriffenheit und dämonischer Besessenheit. Man glaubte, Gott oder der Teufel könne die Kräfte eines Menschen übernehmen, ihn in einen Trancezustand versetzen und manchmal sogar durch die Person sprechen oder handeln. Noch 1759 brach eine öffentliche Kontroverse über die Ekstasen der Anna Elisabeth Lohmann und ihre Kämpfe mit dem aufgeklärten Theologen Johann Salomo Semler aus.  *1
 
 
Stefan Lochner (Hagnau (Bodensee) um 1400/1410 – 1451 Köln): Das Weltgericht, um 1435. Eichenholz, 124,5 x 172 cm. 
 
 

Der Pietismus 

Die Pietisten stellten erstmals das freie Individuum in den Mittelpunkt des Glaubens. Gegen orthodoxe Prinzipienreiterei setzten sie das religiöse Gefühl des Einzelnen. Damit wurden sie zur wichtigsten protestantischen Reformbewegung. Heute ist mit Pietismus in der Regel der klassische Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts gemeint. Dieser plädierte für einen persönlich-individuellen lebendigen Glauben, der sich an der Bibel orientiert und lebensverändernd ist, also der Auswirkungen auf die gelebte Lebenspraxis und den Alltag hat. Es geht dabei nicht primär um äußere Taten und Rituale, es geht um die „innere Verwandlung“ des Menschen, der dann innerlich von Gott so „berührt, ergriffen und erfüllt“ ist, dass es sich nach aussen durch Werke der Liebe zeigt. Große Bedeutung haben im Pietismus auch die interkonfessionelle Gemeinschaft der Christen untereinander sowie das Engagement von Laien.

 

Lukas 5,26

"Eine grosse Erregung erfasste alle, die versammelt waren, und auch sie priesen Gott. Von Ehrfurcht erfüllt, sagten sie: Unglaubliche Dinge haben wir heute erlebt". 

 

*1   Aus: "Werkzeuge Gottes": Ergriffenheit und Bessenheit und ihre Transformationen im Pietismus, von Lucinda Martin, Universität Erfurt, Gotha Research Centre, Faculty Member; Quelle: https://www.academia.edu/

*2   Aus: Idea Dossier Nr. 1/95 vom 13. April 1995, Seite 3

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